„Wir können uns daran erinnern, dass sogar zu unseren Lebzeiten Großbritannien und seine Führer gegen eine Nazi-Tyrannei standen, die Gott aus der Gesellschaft ausmerzen wollte und unsere gemeinsame Menschenwürde vielen, vor allem den Juden, die man für nicht lebenswert hielt, strittig machte. Ich erinnere mich auch an die Einstellung des Regimes gegenüber christlichen Pfarrern und religiösen Menschen, die in Liebe die Wahrheit verkündeten, den Nazis Widerstand leisteten und dies mit ihrem Leben bezahlten. Während wir die ernüchternden Lektionen, die uns der extreme Atheismus des 20. Jahrhunderts lehrt betrachten, lasst uns nicht vergessen, wie der Ausschluss von Gott, Religion und Moral aus dem öffentlichen Leben letztlich zu einem beschnittenen Menschenbild führt und damit zu einer reduzierenden Sicht auf die Person und ihr Schicksal.“
(Papst Benedikt XVI in England)
Neulich, an einem gemütlichen Abend auf unserer Analytikercouch, fragte mich die beste aller Mitbewohnerinnen, ob ich vom Besuch des Papstes in England gehört hätte. Ich hatte, und so erzählte ich ihr, dass sich Papa Ratzi mal wieder dahingehend äußerte, dass die Gottlosigkeit Schuld an all dem Unheil und Unrecht auf der Welt wäre, wie zum Beispiel am Nationalsozialismus. Dass dieser eine Folge des Atheismus wäre, und damit der Atheismus zumindest eine Voraussetzung für die nationalsozialistischen Untaten wäre.
Da ich ein großer Nuschler vor dem nichtexistierenden Herrn bin, kamen meine Worte wohl nicht ganz so deutlich rüber; denn die baM fragte gleich: „Meinst Du, dass der Papst...ein Nazi ist?“
So ganz absurd fühlte sich der Gedanke ja nicht an, betrachten wir die Frage doch mal näher.
Zunächst: Was ist Nationalsozialismus genau? Gibt es eine Definition, die vollständig ist? Ich denke nicht, denn glücklicherweise ist es eine doch eher seltene Angelegenheit, zumindest als dominante und regierende politische Bewegung. Es gibt zu wenige Einzelfälle, um eine Strenge Definition aufzubauen. Wer kann schon genau sagen, welche Elemente auf jeden Fall enthalten sein müssen, damit etwas als Nationalsozialismus gilt?
Ich benutze hier also ganz pragmatisch meine Vorstellungen, was dazugehört; und versuche, mich dabei allerdings auf solche Umstände zu beschränken, von denen ich glaube, dass mir eine überwiegende Mehrheit zustimmen wird.
Der Nationalsozialismus hat eine starre Hierarchie, mit einem charismatischen Führer an oberster Position, der seine Legitimation von einer imaginären höheren Gewalt bezieht (etwa der Vorsehung). Diese höhere Gewalt wird herangezogen, um Vorhersagungen über die Zukunft zu treffen. Um den Führer und um Gefolgsleute, die sich um die Bewegung verdient gemacht haben, wird ein enormer Personenkult betrieben. Ganz besonders, wenn diese im Dienste der Sache ihr Leben gaben.
Ein Buch, das offenbar nur von den fanatischten Anhängern je wirklich komplett gelesen wird, spielt eine große Propagandarolle; und uniformierte Anhänger führen Propagandaveranstaltungen mit viel feierlichen Brimborium durch, ohne dass vernünftige Argumente geboten werden. Stattdessen wird ein System nicht zu hinterfragender Dogmen hochgehalten.
Die Anhängerschaft ist groß, jedoch nicht besonders treu; sie neigt zum Mitläufertum, und ist nur so lange überzeugt, wie es ihr keine Nachteile einbringt.
Erzkonservative Werte werden hochgehalten; die Rolle der Frau ist weitgehend mit ihrer Mutterfunktion ausgefüllt, und Kinder zu bekommen ist notwendig, die Basis der Bewegung wird vergrößert. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Frauen in der nationalsozialistischen Hierarchie nur rangniedere Positionen einnehmen können. Und die Kinder müssen so früh wie möglich indoktriniert werden, teils durch speziell dafür gegründete Organisationen, teils durch rege Einflussnahme auf den Schulunterricht.
Letzteres geht Hand in Hand mit einer konsequenten Wissenschaftsfeindlichkeit. Wissenschaft ist auch deswegen ein Gegner, weil sie grundsätzlich Dogmen nicht zulässt. Stattdessen erfindet man Pseudowissenschaften, die mit vorgegebenem Ergebnis versuchen, die Dogmen zu stützen.
Ganze Bevölkerungsgruppen, die man klar definieren kann, werden zum Feind erklärt, dem man jede Schuld in die Schuhe schieben kann. Gerne werden Abweichungen von der statistischen Norm wie Homosexualität als widernatürlich erklärt, und damit für verdammenswert.
Der Nationalsozialismus ist Imperial, er versucht, sein Einflussgebiet immer auszudehnen. Wobei der Zweck die Mittel heiligt; jeder, der Zweifel äußert, als Gegner gilt, und in der nationalsozialistischen Weltanschauung der Mensch seine wahre Erfüllung nur als Mitglied der Bewegung finden kann.
Anders gesagt: Der Nationalsozialismus ist so ziemlich das genaue Gegenteil der atheistischen Bewegung. Diese ist ein desorganisierter Haufen ohne oberste Autorität, wissenschaftsfreundlich, Dogmen und höhere Mächte ablehnend, überdurchschnittlich feministisch und Homosexualität akzeptierend. Kinderindoktrination ablehnend, eher darauf vertrauend, dass eine gute Bildung einem Kind ermöglicht, sein eigenes Weltbild zu schaffen. Und so weiter und so fort...
Aber all die Eigenschaften, die ich hier beim Nationalsozialismus gefunden habe, finden sich auch in der katholischen Kirche.
Der unfehlbare Führer im Sinne der höheren Macht ist der Papst selber, die uniformierte Truppe der Klerus, der Frauen den Beitritt verweigert; die Verehrung der gefallenen Mitstreiter geschieht durch Selig- und Heiligsprechung, Homosexualität wird zur Sünde erklärt, die Wissenschaft seit Jahrhunderten nach dogmatischen Maßstäben kritisiert; Indoktrination von Kindern setzt geradezu unglaublich früh ein, sie werden getauft ob sie wollen oder nicht und damit in die Organisation aufgenommen, an der Schule gibt es katholischen Religionsunterricht, und die Menschen halten das für völlig normal. Das Grundlagenbuch, die Bibel, wird fast nur von den fanatischten Anhängern je komplett gelesen, die anderen kennen nur die vom Klerus sorgfältig ausgewählten Abschnitte. (Statistisch gesehen haben Atheisten bessere Bibelkenntnisse als katholische Laien; oft wurden sie dadurch zum Atheisten.) Die Lehre wird hochgehalten, aber voller Überzeugung nur dann verbreitet, solange man nichts riskiert: Wer liebt schon seine Feinde, hält die andere Wange hin, verschenkt all sein Hab und Gut an die Armen? Der Papst, der in einem geradezu obszönen Luxus lebt, bestimmt nicht. Und so weiter...
Also, wie ist es nun: Ist der Papst ein Nazi?
Nein, ich denke nicht daran, mich auf das Niveau des Papstes herabzubegeben und meine Gegner mit Nazis gleichzusetzen. So viele Parallelen es auch geben mag, ich kann nicht in der katholischen Kirche eine so offene Menschenverachtung finden, wie bei den Nazis. Wenn schon nichts anderes, so arbeitet die Kirche subtiler. Die Kreuzzüge sind lange her, heutzutage ist die beliebteste katholische Methode, möglichst viele Menschen ums Leben zu bringen, ihr Verbot von Kondomen, inklusive der Verbreitung der Fehlinformationen, dass diese nicht vor Aids schützen oder sogar diese Krankheit erst verursachen.
Was ich aber durch längeres Überdenken dieser Frage wohl eindeutig sagen kann ist: Voltaire stellte fest, solange Menschen an Absurditäten glauben, werden sie auch Greueltaten begehen. Ob die Absurdität nun darin besteht, zu glauben es gäbe so etwas wie eine germanische und eine jüdische Rasse oder es gäbe einen Schöpfer des Himmels und der Erde, das ist völlig egal. Absurde Dogmen verbunden mit rigidem Machtapparat ergeben eine großartige Rezeptur für Unterdrückung, Menschenverachtung und Bigotterie. Wenn Voltaire Recht hat, dann kann man dem Atheismus an sich keine Schuld für derlei Dinge geben, seine Anhänger definieren sich ja nur dadurch, dass sie eine bestimmte Absurdität ablehnen. Was nicht heißt, dass ein Atheist ein Unschuldsknabe sein muss, denn es gibt noch genug andere Absurditäten, an die man Glauben kann, außer Gott. Und wenn ein Atheist auf einem anderen Gebiet zum Menschenverachtenden Dogmatiker wird, dann hat das mit seinem Atheismus soviel zu tun, wie die Taten Hitlers, Stalins und Lenins damit, dass sie Bartträger waren.
Mir scheint es, als ob der Papst versucht, Atheisten dafür zu verurteilen, dass sie potentielle Nazis sind. Und abgesehen davon, dass es mir grundsätzlich nicht gerechtfertigt scheint, jemanden für eine Möglichkeit zu verurteilen, ja selbst für einen Vorsatz, solange dieser nicht in die Tat umgesetzt wurde, sehe ich wirklich keinen Grund, warum Atheisten mehr zum Nazitum neigen sollten als Katholiken oder Meerschweinchenzüchter. Vermutlich eher weniger, da sie dem blinden Gehorsam gegenüber skeptischer eingestellt sein dürften. Was genau die Eigenschaft ist, die von der Kirche nicht gerade gefördert wird, wenn sie verlangt, ziemlich abstruse (und faktisch widerlegte) Geschichten aus der Bibel als Tatsachenbericht anzuerkennen. Auf alle Fälle unterlässt es der Papst bei seiner Behauptung, sie zu begründen, was in Anbetracht derer Tragweite schon mal verdächtig manipulativ wirkt. (Im Übrigen hat die Kirche kein Problem damit, Verurteilungen aufgrund eines Potentials zu einer Tat zu treffen: Ein Dogma des katholischen Glaubens, die Erbsünde, läuft auf nichts anderes hinaus.)
Manchmal frage ich mich, ob der Klerus wirklich noch Bestandteil einer Religion ist, oder zu nichts anderem verkam, als einer gigantischen Public Relations-Maschinerie im eigenen Auftrag. Das würde zumindest erklären, warum er nichts besseres zu tun hat, als ständig allen anderen Schuld zuzuweisen und die eigene Schuld unter den Teppich zu kehren.
Was der Papst hier von sich gibt, ist nichts anderes als der „Wahre Schotte-Trugschluss“ :
„Kein Schotte gibt Zucker in seinen Haferbrei.“
„Aber mein Onkel Angus ist Schotte, und er gibt Zucker in seinen Haferbrei.“
„Ja, aber dein Onkel Angus ist kein wahrer Schotte.“
Er hält die Katholiken hoch, indem er jeden, der nicht seiner Wunschvorstellung entspricht, zum nicht wahren Katholiken erklärt. Und der Katholik Adolf („Ich glaube heute, dass ich im Sinne des allmächtigen Schöpfers wirke.“) Hitler bekommt die Rolle eines Atheisten verpasst. Was ist das für eine Art, den Begriff „katholisch“ zu definieren? Vor allem, wer sind denn die „wahren Katholiken“? Gibt es einen einzigen, den der Papst als solchen anerkennen würde, und dazu stünde, dass alles, was dieser in Zukunft täte, er als Katholik vollbrächte? Wenn nicht, dann ist der Begriff bedeutungslos, aber Bedeutungslosigkeit stellte für den Klerus noch nie ein Hindernis dar, also darf es mich nicht wundern. Vielleicht sollte man auch eine andere Frage über den Papst mal ernsthaft erläutern, die seit Jahrzehnten und einigen Päpsten als Scherz kursiert: Ist der Papst katholisch? Nach meiner Definition schon, aber ich glaube wirklich, dass er sich nach seinen eigenen Kriterien selber aussiebt.
Wenn also der Papst solche Reden schwingt, wie wir sie in letzter Zeit wieder von ihm zu hören bekamen, dann ist er entweder unehrlich oder sehr unbedacht. In beiden Fällen jemand, der es nicht verdient, ernst genommen zu werden, der Splitter im Auge der anderen, nicht den Balken im eigenen sieht. Und ich hoffe, dass die Welt eines Tages einsieht, wie demagogisch, unreflektiert und albern er und seine Mitstreiter sich aufführen, und wie viel besser es doch wäre, wenn man Menschen mit seit 2000 Jahren überlieferten Wahnvorstellungen genau so behandeln würde wie diejenigen, deren Wahn keinen historischen Hintergrund hat. Unsinn wird nicht zur Weisheit, indem er Jahrtausende reift.