Sonntag, 17. Oktober 2010

Denkfehler: ad ignorantiam

Sollte es jemals so etwas wie eine top ten der Trugschlüsse geben, ad ignorantiam wäre bestimmt enthalten. Dieser Fehler ist so unglaublich beliebt und auf eine gewisse Weise sogar effizient. Vielleicht, weil er so dämlich und leicht zu durchschauen ist...dass man ihn nicht durchschaut! Kein vernünftiger Mensch käme überhaupt auf die Idee, so zu denken; und wenn er dann mit einer Aussage konfrontiert ist, die darauf beruht, kann es sein, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht und darauf reinfällt. 10 Minuten später, oder am nächsten Tag, kommt es dann plötzlich hoch: „Da wurde mir doch ein völliger Quatsch erzählt!“
Und dann ist es leider meist auch schon zu spät.
Dieser Denkfehler hat folgende, recht simple, Struktur:
„Ich weiß nicht, dass X nicht Fakt ist; also ist X Fakt.“
Eine Umwandlung von Nichtwissen in Wissen! Eher kann ein Alchemist Blei in Gold verwandeln oder die Wildecker Herzbuben in anorektische Rockmusiker. Dabei ist der Fehler leicht nachzuweisen. Ein Schluss kann in seiner Struktur nur dann korrekt sein, wenn diese Struktur in jedem Fall gültig ist. Sobald man damit widersprüchliche Aussagen konstruieren kann, stimmt etwas nicht. Für oben genanntes „X“ lässt sich genau so gut sagen:
„Ich weiß nicht, dass X Fakt ist, also ist X nicht Fakt.“
Einmal abgesehen davon, dass diese Fehlargumentation sich so großartig zum Bluffen eignet, ist sie wohl auch noch aus einem anderen Grund so beliebt und wird oft angewendet: Es liegt in ihrer Natur, dass sie auf nichts beruht. Daher gibt es keinerlei Bedingungen, die eine Fragestellung erfüllen muss, damit dieses Pseudoargument einsatzfähig wäre; es ist so eine Art schweizer Offiziers-Taschenmesser der Trugschlüsse. Und es gibt auch viele mögliche Motivationen, zu diesem Mittel zu greifen, wobei die Hauptkategorien davon meiner Ansicht nach die folgenden sind:
  • Jemand WILL etwas glauben; es ist ihm nicht wirklich wichtig, ob es wahr ist oder nicht, er benötigt diesen Glauben, um mit seinem Leben oder mit seinem Selbstbild zurechtzukommen. Alleine schon die Möglichkeit, damit das eigene Gewissen zu beruhigen, ist schon verführerisch.
  • Auch wenn jemand nicht selber ernsthaft daran glaubt, dies wäre ein ernstzunehmendes Argument, so mag er doch geneigt sein, es als Ausrede gegenüber anderen einzusetzen. Es ist ja schließlich so universell einsetzbar, immer zur Hand, auf jede Situation übertragbar und benötigt noch nicht einmal ernsthaftes Überlegen, wie man es nun in einem speziellen Fall formulieren muss. Sehr oft habe ich den Eindruck, dass ad ignorantiam geradezu reflexartig von sich gegeben wird (und dummerweise trägt das auch noch sehr dazu bei, dass man damit durchkommt; es findet dann gar kein bewusstes Lügen statt, welches durch dazugehörige nonverbale Signale den Verdacht des Zuhörers wecken könnte).
  • Und, wie jeder andere Trugschluss, so kann auch ad ignorantiam zur bewussten Manipulation eingesetzt werden: Man gibt ihn von sich, ohne im geringsten selber an die Gültigkeit zu glauben. Besonders effizient, wenn der Gedanke nicht für sich alleine steht, sondern genügend Ablenkung von der Schwäche des Arguments vorhanden ist. Am besten, indem man gleich nach der so erfolgten Behauptung so schnell darauf aufbaut, dass der durchschnittliche Zuhörer gar keine Zeit bekommt, darüber nachzudenken. Er muss einer Weiterführung, die inhaltlich völlig korrekt sein kann, folgen, und er bemerkt gar nicht, dass alles auf einer Prämisse basiert, die aber falsch ist. Ganz plötzlich ist er im obersten Stock eines Gedankengebäudes, dem das Erdgeschoss fehlt...
Und ich frage mich, wann ich es endlich selbst fertig bringe, sobald ich ein Reflex-ad ignorantiam höre ebenso reflexartig „Bullshit!“ zu denken und zu sagen...

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