Sonntag, 26. September 2010

Denkfehler: Ad verecundiam

Manchmal gehen einem die Argumente aus. Aber kann es nicht sein, dass es noch welche gibt, die einem nur gerade nicht einfallen wollen? Was bleibt zu tun?
Wie kann man seinen Gegner überzeugen, dass weitere Argumente existieren, ohne in der Lage zu sein, solche anzuführen?
Eine leicht gelöste Aufgabe, solange diesem Gegner der Trugschluss im ad verecundiam-Argument nicht bewusst ist. Man muss nur einen Experten zitieren, der die eigene Meinung vertritt. Schließlich kennt der sich aus, weiß viel mehr als man selbst zum Thema...und außerdem ist er in der Regel auch nicht zur Hand, um zu widersprechen. Und man kann auf diese Weise auch noch aufs angenehmste sein Gegenüber für eingebildet erklären, vertritt er doch voller Inbrunst eine gegenteilige Meinung als der Experte!
Es spricht prinzipiell nichts dagegen Expertenmeinungen im Streitgespräch anzuführen. Aber dazu müssen einige Bedingungen erfüllt sein:
  • man muss ihn richtig zitieren; nichts darf aus dem Kontext gerissen werden, denn das verfälscht die Aussage
  • nur solche Aussagen sind zulässig, die der Experte in seiner Expertenfunktion auf seinem Sachgebiet trifft: so hat zum Beispiel ein Politiker nicht unbedingt die Kompetenz, sich inhaltlich korrekt über Gentechnologie zu äußern, selbst wenn er es auf seinem Gebiet bis zum Staatsoberhaupt geschafft hat
  • er sollte als Experte allgemein anerkannt sein; sonst verschiebt sich die ursprüngliche Fragestellung nur darauf, ob er ein Experte ist, statt zu einer Antwort zu führen
  • da selbst Fachleute sich in vielen Fragen uneins sind, muss man gegebenenfalls auch erwähnen, dass es in den Expertenreihen unterschiedliche Meinungen gibt, alles andere wäre schlichtweg unehrlich
  • die zitierte Expertenmeinung darf nicht allzu alt sein. Was nun „zu alt“ bedeutet, schwankt von Sachgebiet zu Sachgebiet und von Thema zu Thema; da aber auf fast jedem Gebiet im Lauf der Zeit neue Erkenntnisse gewonnen werden, die die alten ersetzen, ergänzen oder korrigieren, gibt es wenig Sinn, jemanden als Beleg anzuführen, der weit weniger Information zur Verfügung hatte, sich seine Meinung zu bilden, als ein moderner Gegenpart. Man kann schlecht auf die Viersäftelehre pochen und das mit Hippokrateszitaten untermauern
  • last not least: Selbst im günstigsten Fall sagt die Meinung eines Experten nichts aus, wenn das Sachgebiet selbst, für das er als Fachmann gilt, nicht legitim ist. Ebenso wie der Experte allgemein anerkannt sein muss, muss es auch das Sachgebiet sein. Vor allem muss es überhaupt existieren. Ein Wünschelrutengänger kann unter seinesgleichen noch so einen guten Ruf haben, ein Hellseher noch so anerkannt sein, ein Homöopath noch so berühmt und geschätzt...sie alle bleiben bisher den Beweis schuldig, dass die Dinge, die sie in ihren Aussagen interpretieren, überhaupt real sind
Ein weiterer Einwand ist eher ästhetischer Natur: Ein solches Argument ist nie besonders elegant oder lehrreich. Es mag praktisch sein, um eine Entscheidung zu treffen, mehr aber nicht. Denn streng genommen, wenn man unzweifelhaft sicher sein kann, dass jemand wirklich ein Experte auf einem bestimmten Gebiet ist, dann muss man selbst einer sein und hat es nicht nötig, andere zu zitieren. Man hat die gleichen Argumente auf Lager, die den genannten Experten zu seiner Meinung führten. Und die zu nennen, wäre weit eleganterKurzum, wenn nicht eine Menge Regeln eingehalten werden, so handelt es sich um ein Pseudoargument. Und selbst wenn man diese Regeln einhält, wird es kein besonders überzeugendes Argument, es ist stets nur ein Platzhalter für weit bessere Gründe. In dieser Platzhalterfunktion mag dann aber auch der Vorteil liegen, denn oft erspart es einem eine Menge Zeit, nicht zu sehr ins Detail zu gehen; vorausgesetzt, es geht um rein praktische Fragen. Grundsätzliches lässt sich mit solchen Aussagen nie klären, weil das ad verecundiam-Argument keiner Sache überhaupt auf den Grund geht. Es beschäftigt sich nicht mit einer Frage an sich, sondern nur mit Meinungen zu dieser Frage.

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